Forschungsstelle Arztrecht




Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes




Vier Thesen zur Diskussion des Themas:

Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Eine Zumutung für den
Arzt?


I. Einleitung
II. Die Arbeitsunfähigkeit und ihre Feststellung
III. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
IV. Das Interesse des Arztes an der Ausstellung einer richtigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung






I. Einleitung

Georg Christoph Lichtenberg hat es einprägsam formuliert: "Wenn die Jurisprudenz lauter Menschenverstand wäre, so wollte ich Ihnen wenigstens nicht abrathen, allein da manches darin gerade das Gegenteil ist, so zerrüttet die Erlernung derselben einen gesunden Kopf gar gewaltig!"
Mancher Mediziner wird dieses Urteil von Lichtenberg gerne unterstreichen. Und - gibt es nicht gute Gründe für ein solches Urteil?

Sind denn nicht die Juristen für die völlig übersteigerten Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht verantwortlich? Ist denn der heutzutage völlig überladene Beipackzettel zu einem Medikament nicht das Ergebnis einer verfehlten Rechtsprechung zur Haftung von Pharmaunternehmen? Sind denn nicht die von Juristen aufgestellten Forderungen an die ärztliche Dokumentation , sind denn nicht die Probleme, die im Zusammenhang mit der Abtretung von
Honorarforderungen auftreten, ein bösartiges Störfeuer von Seiten der Juristen? Sind es nicht Juristen, die Ärzte - zu Zeiten, in denen das Wartezimmer voll ist - als Sachverständige zum Ort des Gerichtes zitieren, sie lange in dunklen Fluren warten lassen, um dann mitzuteilen, ihre Aussage sei entbehrlich, weil die Parteien sich gütlich geeinigt hätten?

Die Liste ließe sich beliebig verlängern und zeigt, daß es aus ärztlicher Sicht durchaus gute Gründe gibt, das Wirken der Juristen als zumindest nicht förderlich für eine sinnvolle Arbeit des Arztes zu bezeichnen. Auf der anderen Seite mag der Ruf des Arztes als "Halbgott in Weiß" und die Tatsache, daß sich durchaus Beispiele für die Richtigkeit dieses Befundes finden, die Versuchung manches
Juristen schüren, die Halbgötter in ihre Schranken zu weisen und ihnen bzgl. der Aufklärung der Patienten, bzgl. der Dokumentation, bzgl. Kunstfehler usw. ganz besonders genau "auf die Finger zu schauen".

Bei aller Gegensätzlichkeit, bei allen Vorurteilen, die teils gepflegt, teils karikiert und teils gänzlich geleugnet werden, gibt es viele Gebiete, auf denen nur dann gute und sinnvolle Ergebnisse zu erzielen sind, wenn Juristen und Ärzte eng zusammenarbeiten. Sei es, daß die Zusammenarbeit institutionell ist, wie etwa in den Ethik-Kommissionen, sei es, daß man sich in freundschaftlicher Diskussion
auseinandersetzt, wie etwa im Rahmen der Forschungsstelle für Arztrecht. Ich habe den Eindruck, daß diese Diskussion in vielen Bereichen noch nicht ausreichend geführt ist - einer dieser Bereiche ist die Arbeitsunfähigkeit. Einem Teilproblem aus diesem großen Bereich ist der heutige Abend gewidmet. Wir wollen gemeinsam die Frage stellen, ob die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit eine Zumutung für den Arzt ist.

II. Die Arbeitsunfähigkeit und ihre Feststellung

1. Was Arbeitsunfähigkeit ist und wie sie festzustellen ist, ergibt sich für den Kassenarzt aus den vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen am 3. September 1991 verabschiedeten Richtlinien über die Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit und zur stufenweisen Wiedereingliederung (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien).

Nach dieser Richtlinie liegt Arbeitsunfähigkeit vor, "wenn der Versicherte aufgrund von Krankheit seine ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Krankheit ausführen kann. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, daß aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen,
die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen". Da zwischen Krankheit und der dadurch bedingten Unfähigkeit zur Fortsetzung der ausgeübten Tätigkeit ein kausaler Zusammenhang erkennbar sein muß, "hat der Arzt den Versicherten über Art und Umfang der tätigkeitsbedingten Anforderungen
und Belastungen zu befragen und das Ergebnis der Befragung bei der Beurteilung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen". Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erfordert wegen ihrer Tragweite für den Versicherten und ihrer arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen sowie wirtschaftlichen Bedeutung besondere Sorgfalt. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit darf nur aufgrund ärztlicher Untersuchung und auf dem dafür vorgesehenen Vordruck erfolgen.

2. Da Arbeitsunfähigkeit vorliegt, wenn der Arbeitnehmer aufgrund von Krankheit seine ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, muß der Arzt, bevor er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellt, zweierlei feststellen. Zum einen muß er feststellen, daß der Arbeitnehmer krank ist, und zum anderen muß er feststellen, daß der Arbeitnehmer aufgrund der Krankheit seine ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausführen kann.

a. Nun wird man - auf den ersten Blick jedenfalls - die Feststellung der Krankheit, auch wenn sie im Einzelfall außerordentlich schwierig ist, wohl kaum als eine Zumutung für den Arzt bezeichnen können. Die Feststellung ist vielmehr unerläßliche Voraussetzung einer sinnvollen Behandlung. Zweifel, ob nicht doch auch im Rahmen der Feststellung der Krankheit dem Arzt zuweilen einiges
zugemutet wird, könnten auftreten, weil der Arzt bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit wegen ihrer arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen sowie wirtschaftlichen Bedeutung besondere Sorgfalt anwenden muß. Was aber heißt das? Heißt das, daß der Arzt, weil bekanntermaßen das Krankfeiern weit verbreitet ist und der volkswirtschaftliche Schaden, der durch die vorgetäuschte
Arbeitsunfähigkeit entsteht, erheblich ist, zum Schutze der Krankenkassen, der Arbeitgeber und der Volkswirtschaft, seinem Patienten grds. mißtrauen und davon ausgehen muß, sein Patient wolle ihn täuschen und sei in Wirklichkeit gar nicht krank? Darauf wird zurückzukommen sein.

b. Neben der Feststellung der Krankheit muß der Arzt feststellen, daß der Arbeitnehmer seine ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausführen kann. Es kommt also auf die vom Arbeitnehmer bei seinem Arbeitgeber zu verrichtende Tätigkeit an. Wesentlich ist hierbei die nach dem Arbeitsvertrag geschuldete Arbeitsleistung. Wie weit gehen hier die Pflichten des Arztes? Welchen
Ermittlungsaufwand muß er betreiben, um die Frage zu beantworten, ob der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Leistung erbringen kann? Muß er den Arbeitnehmer intensiv befragen, den schriftlichen Arbeitsvertrag prüfen, den Arbeitgeber kontaktieren und um Auskünfte bitten usw.? Auch hier stellt sich die Frage, ob die Anforderung an den Arzt nicht überzogen werden und ihm
Unzumutbares auferlegt wird. Bevor wir uns nun diesen Fragen zuwenden, gilt es jedoch zur Ausleuchtung des Hintergrundes die Frage zu beantworten, warum die Anforderungen, die teilweise in der Rechtsprechung und der juristischen Literatur an den Arzt bei der Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gestellt
werden, so immens hoch sind. Das hängt mit dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zusammen.

III. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung


1. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zeigt sich im Arbeitsgerichtsprozeß. Wir wollen als Beispiel den Fall nehmen, daß der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, nach der er sieben Tage arbeitsunfähig war. Der Arbeitgeber ist überzeugt, daß der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig war, sondern nur krank gefeiert hat. Er zahlt für die Zeit des Fernbleibens von der Arbeit den Lohn nicht. Der Arbeitnehmer verklagt nun beim Arbeitsgericht den Arbeitgeber auf Zahlung des Lohnes. Um den Prozeß zu gewinnen, muß der Arbeitnehmer behaupten und beweisen, daß er arbeitsunfähig krank war. Dies tut er durch die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Sie ist nach der Rechtsprechung des BAG der
gesetzlich vorgesehene und gewichtigste Beweis für die Tatsache einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit; sie hat hohen Beweiswert. Dieser Beweiswert ergibt sich nach Ansicht der Rechtsprechung aus der Lebenserfahrung. Der Tatrichter könne normalerweise den Beweis der Erkrankung als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlege.

2. Welche prozessualen Möglichkeiten hat nun der Arbeitgeber, der der Auffassung ist, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei falsch? Er kann nun seinerseits Tatsachen vortragen, die zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben (sog. Indizienrechtsprechung). Welche Indizien stehen aber dem Arbeitgeber zur Verfügung, um die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu
erschüttern?

Da die Art der Krankheit nicht auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angegeben ist und der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, diese zu offenbaren, wird der Arbeitgeber in aller Regel die Krankheit nicht kennen. Wenn er die Krankheit nicht kennt, wird er auch nichts dazu sagen können, ob die Krankheit kausal dafür war, daß der Arbeitnehmer seinen arbeitsvertraglichen
Verpflichtungen nicht nachkommen konnte. Was aber bleibt dem Arbeitgeber?

a. Ausreichende Indizien, die geeignet sind den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, liegen nach der Rechtsprechung vor, wenn der Arzt die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne eigene Untersuchung ausstellt. Es liegt auf der Hand, daß
dieses Indiz in der Praxis kaum eine Rolle spielt, weil der Arbeitgeber in aller Regel eben nicht weiß, ob der Arzt untersucht hat oder nicht. Gleiches gilt für den Fall, daß die ärztliche Diagnose auf keinem objektiven Befund, sondern auf den bloßen Angaben des Arbeitnehmers beruht. Woher soll der Arbeitgeber dies wissen?

Der mehrstündige Besuch eines Spielkasinos mit einer längeren An- und Abfahrt im PKW am Abend des Tages, an dem der Arbeitnehmer durch seinen Hausarzt krank geschrieben wurde, sei - so einzelne Stimmen - geeignet, erhebliche Vorbehalte hinsichtlich der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu rechtfertigen. Andere sehen darin kein Indiz für die
vorgetäuschte Krankheit. Ein solches Indiz soll aber der Besuch der Kirmes bzw. der Diskothek sein. Auch dies ist allerdings streitig. An anderer Stelle lesen wir: "daß der Arbeitnehmer während der Krankheit ein Restaurant, ein Kino oder ähnliche Stätten aufsucht, besitzt nicht im jedem Fall indizielle Wirkung."

Indiz soll sein, wenn der Arbeitnehmer ankündigt, krank zu feiern, wenn sich nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber acht von fünfzehn Arbeitern einer Kolonne arbeitsunfähig krank schreiben lassen oder die gleichzeitige Arbeitsunfähigkeit sämtlicher gekündigter Arbeitnehmer vorliegt oder häufige Krankheitszeiten im Heimaturlaub bzw. im unmittelbaren Anschluß daran
auftreten. Indiz ist auch, wenn der Arbeiter sich einer angeordneten vertrauensärztlichen Begutachtung entzieht oder wenn eine Arbeitnehmerin während der Arbeitsunfähigkeit wegen Unterleibsschmerzen am Geländereiten teilnimmt. Indiz sei auch das ausdauernde Tanzen auf einer
Faschingsfeier bei angeblichen Kreislaufstörungen, Taxifahren, Rasenmähen, Arbeiten am Dachstuhl. Weiter ist als Indiz für die vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit angenommen worden, daß ein Arbeitnehmer während einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit schichtweise einer
Nebenbeschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber nachgegangen ist, daß Reinigungsarbeiten während einer attestierten Arbeitsunfähigkeit als Küchenhilfe übernommen wurden, daß der Arbeitnehmer am Bau seines Eigenheimes mithilft, daß er in der Gaststätte seiner Ehefrau mithilft, daß er regelmäßig Fahrstunden nimmt oder daß während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Feldarbeiten verrichtet.

Es scheint also die Nebenbeschäftigung ein Indiz für die vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit zu sein. Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht. So lesen wir in einem arbeitsrechtlichen Standardwerk:
"Allerdings kann sich aus der Intensität der Nebenbeschäftigung unter Umständen der begründete Verdacht ergeben, die Arbeitsunfähigkeit sei nur vorgetäuscht."     Es soll also auf die Intensität der Nebenbeschäftigung ankommen. Hierzu wird der Arbeitgeber aber wenig Substantiiertes sagen können.

b. Der Beweiswert ist nicht schon dann erschüttert, wenn der Arbeitnehmer wiederholt nicht zu Hause angetroffen wird.

c. Ein Überblick über diese Indizienrechtsprechung zeigt zum einen, daß sie keineswegs einheitlich ist und es daher für den Arbeitgeber sehr schwer zu prognostizieren ist, ob sein Indiz ausreicht, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Zum anderen können die genannten Fälle, in denen ein Indiz angenommen worden ist, als Ausnahmefälle bezeichnet werden. In aller Regel wird der Arbeitgeber eben keine Informationen darüber haben, daß der Arbeitnehmer Nächte in der Diskothek durchgetanzt hat. Es ist darüber hinaus zu vermuten, daß der Arbeitnehmer, der ankündigt krank feiert, in der Praxis nicht allzu häufig anzutreffen ist. Wohingegen der Arbeitnehmer, der aufgrund anstrengenden Feierns oder aus anderen Gründen keine Lust zum Arbeiten hat und der gleichzeitig so geschickt ist, keines der obengenannten Indizien zu schaffen, sehr viel häufiger anzutreffen sein dürfte. In diesen Fällen, die m.E. durchaus als die Regelfälle zu bezeichnen sind, ist
der Arbeitgeber der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schutzlos ausgeliefert. Er muß ohne die Möglichkeit der Gegenwehr für den gesunden Arbeitnehmer, der Arbeitsunfähigkeit vortäuscht, Lohn zahlen.

d. Es bleibt die Frage, ob hier nicht der Medizinische Dienst der Krankenkassen wirksam Abhilfe schafft? Es gibt Hinweise aus der Praxis darauf, daß sich die Einschaltung des Medizinischen Dienstes aus "verschiedenen Gründen, z.B. des reinen Zeitablaufs" als ungenügend erwiesen hat. Es kommt hinzu, daß der Medizinische Dienst nicht die Arbeitnehmer erfaßt, die privat versichert sind.
Schließlich ist der Arbeitgeber bei der Einschaltung des Medizinischen Dienstes von der Krankenkasse abhängig. Sie beurteilt, ob der Medizinische Dienst in "Marsch gesetzt wird". Entscheidend scheint aber der schon angesprochene Hinweis auf den reinen Zeitablauf. Der geschickte Arbeitnehmer, der sich etwa während seiner Krankheit nicht zu Hause aufhält, wird vom
Medizinischen Dienst dort nicht angetroffen. Er kann daher lediglich vorgeladen werden. Wenn der Arbeitnehmer dann zu dieser Vorladung erscheint und - nach seiner Aussage - wieder gesund ist, kann ihm in aller Regel nicht nachgewiesen werden, daß seine Krankheit nur vorgetäuscht war.

e. Weit bessere Chancen hätte der Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer im Prozeß seine Krankheit offenbaren müßte. Dann hätte der Arbeitgeber eine reale Chance darzutun, daß diese Krankheit nicht zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat. Er hätte auch - wenn der behandelnde Arzt vernommen werden kann - ggf. die Chance darzutun, daß die Krankheit nur vorgetäuscht war.

Nach der derzeitigen geltenden Indizienrechtsprechung hat der Arbeitgeber diese Chancen in aller Regel nicht; er ist der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schutzlos ausgeliefert. Das wird von der ganz herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nicht gesehen. Die h.M. ist m.E. verfassungsrechtlich nicht haltbar. Der Arbeitgeber muß im Prozeß eine faire Chance haben, sich zu wehren. Die hat er derzeit nicht. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden.

Für unsere Erörterungen ist wichtig, daß die ganz herrschende Meinung nach wie vor davon ausgeht, die Lebenserfahrung spreche für die Richtigkeit der von einem Arzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Insoweit aber scheint mir eines klar: Diese Behauptung läßt sich um so besser aufrechterhalten, je höher die Gewähr für die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist. Und die Gewähr für die Richtigkeit steigt, je größer die Prüfungspflichten sind, die dem Arzt auferlegt werden, um zu ermitteln, ob der Patient wirklich krank ist und ob die Krankheit ihn wirklich daran hindert, seiner Arbeitspflicht nachzukommen. Die
Auffassung von der nach der Lebenserfahrung richtigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verführt also dazu, hohe Anforderungen an den die Bescheinigung erteilenden Arzt zu stellen.

Das führt zu meiner ersten These

Um ihrer Behauptung, die Lebenserfahrung spreche für die Richtigkeit der vom Arzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, nicht von vorne herein die Plausibilität zu nehmen, muß die h.M. hohe Anforderungen an den die Bescheinigung erteilenden Arzt stellen.

Das führt uns nun zurück zu unserer Frage, welche Anforderungen denn an den Arzt gestellt werden, ob diese Anforderungen ihm zumutbar sind und wie überhaupt die Interessenlage des Arztes ist.

IV. Das Interesse des Arztes an der Ausstellung einer
richtigen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung


1. Ich beginne mit der Frage, ob der Arzt denn überhaupt ein Interesse daran hat, eine richtige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen.

Der Arzt hat sicherlich ein Interesse daran, sich bei der Ausstellung der Bescheinigung nicht gem. § 278 StGB strafbar und sich nicht gem. § 106 Abs. 6 a SGB V schadensersatzpflichtig zu machen. Nach der letztgenannten Norm macht sich der Arzt schadensersatzpflichtig, wenn die Arbeitsunfähigkeit grob fahrlässig oder vorsätzlich festgestellt worden ist, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht vorgelegen haben. Darüber hinaus wird der Arzt aber vor allem ein Interesse daran haben, seine Kunden (Patienten) zufrieden zu stellen. Er hat kein Interesse und auch keine vertragliche Verpflichtung, die Interessen des Arbeitgebers zu wahren. Er muß zudem damit rechnen, daß er Patienten verliert, wenn er allzu strenge Anforderungen an die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stellt. Es wäre also zumindest wirtschaftlich vernünftig, wenn der Arzt sich im Rahmen seines Beurteilungsspielraumes kundenfreundlich verhält.

Schon aus diesem Grunde kann der behandelnde Arzt nicht - wie mancher es gerne tun würde - als unabhängiger Sachverständiger bzgl. der Krankheit seines Patienten angesehen werden. Dem Arzt diese Rolle zuzuweisen, wäre aber noch aus einem anderen - weit gewichtigeren Grunde - höchst problematisch. Wäre der Arzt nämlich als unbeteiligter Sachverständiger tätig, dann müßte er - ich
komme insoweit auf einen oben schon angesprochenen Gedanken zurück - bei seiner gutachterlichen Tätigkeit auch berücksichtigen, daß der Schaden, der durch vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit bei Arbeitgebern, Krankenkassen und für die Volkswirtschaft entsteht, erheblich ist. Er müßte berücksichtigen, daß er ggf. von dem Patienten getäuscht wird; er müßte diesem mit einem gewissen Mißtrauen begegnen, weil er als Sachverständiger auch die Belange von Arbeitgebern,
Krankenkassen und Allgemeinheit berücksichtigen müßte. Dies aber würde den Arzt in eine Gegnerschaft zu seinem eigenem Patienten treiben. Demgegenüber hat die Rechtsprechung zu Recht herausgestellt, daß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ein starkes Vertrauen voraussetze und daß dieses Verhältnis im starken Maße in der menschlichen Beziehung wurzele, in die der Arzt zu den Kranken trete und daß es daher weit mehr als eine juristische Vertragsbeziehung sei.

Das Landesarbeitsgericht München hat insoweit zutreffend formuliert, der Arzt habe in aller Regel keine Veranlassung habe, an der Wahrheit dessen zu zweifeln, was der Patient ihm klagt. Er müsse - anders als ein Gericht bei der Beweisaufnahme - nicht stets wägend prüfen, ob er nicht das Opfer
einer Täuschung werden solle. Er dürfe von der Hilfsbedürftigkeit seines Patienten ausgehen und seine ärztlichen Maßnahmen an den geklagten Beschwerden ausrichten. Wenn in den Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien (in Nr. 10) der Arzt dazu angehalten wird, bei Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besondere Sorgfalt walten zu lassen wegen der arbeits- und sozialversicherungsrechtlich sowie wirtschaftlichen Bedeutung, so ist dagegen nichts einzuwenden. Sollte damit allerdings intendiert sein, daß der Arzt seinem Patienten mit besonderer Vorsicht begegnen muß, weil er damit rechnen muß, daß dieser die Arbeitsunfähigkeit nur vortäuscht und damit Arbeitgeber, Krankenkassen und Allgemeinheit einen Schaden zufügt, wäre dies - um den Worten der Überschrift zu bleiben - eine Zumutung für den Arzt.

These zwei lautet daher

Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient setzt ein starkes Vertrauen voraus. Der Arzt hat daher bei der Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht, weil die Bescheinigung von erheblicher arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher sowie wirtschaftlicher Bedeutung ist, den Angaben seines Patienten mit Vorsicht zu begegnen, damit er den Patienten, der ihn bezüglich der Arbeitsunfähigkeit täuscht, überführt und so Schaden vom Arbeitgeber, von der Sozialversicherung und der Allgemeinheit abwendet. Er darf vielmehr von den Angaben seines Patienten ausgehen, sofern nicht deutliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Patient täuschen will.

2. Wenn der Arzt nun eine Krankheit seines Patienten diagnostiziert hat, muß er, um die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen zu können, feststellen, ob der Arbeitnehmer aufgrund der Krankheit die ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausführen kann. Während der Arzt die Feststellung der Krankheit auf der Grundlage seiner Fachkunde treffen kann, erfordert die Feststellung, ob die
Krankheit den Arbeitnehmer an der Ausübung seiner Tätigkeit hindert, nicht nur medizinische, sondern auch rechtliche Kenntnisse.

Bei der Feststellung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit sind drei Arten von Krankheiten zu unterscheiden. Die erste Gruppe bilden die Erkrankungen, die so schwer sind, daß bei ihrem Vorliegen jeder Betroffene arbeitsunfähig ist. In die zweite Gruppe sind die Erkrankungen einzuordnen, die so leicht sind, daß bei ihrem Vorliegen niemand arbeitsunfähig ist. Beide Gruppen von Erkrankungen sind für den Arzt unproblematisch. Er weiß, daß eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auszustellen ist (erste Gruppe) bzw. nicht auszustellen ist (zweite Gruppe). Problematisch ist hingegen die dritte Gruppe der Erkrankungen, bei denen es von der jeweiligen Arbeitsaufgabe und den Arbeitsumständen abhängt, ob der betroffene Mitarbeiter arbeitsunfähig ist. Hier muß der Arzt - so sehen es die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien vor - den Versicherten über Art und Umfang der tätigkeitsbedingten Anforderungen und Belastungen befragen und das Ergebnis der Befragung bei der Beurteilung von Grund und Dauer der Arbeitsunfähigkeit
berücksichtigen. Der Arzt muß sich also mit der Tätigkeit seines Patienten auseinandersetzen; er muß ermitteln. Die Ermittlungstätigkeit ist auf die Befragung des Patienten beschränkt. Der Arzt ist nicht verpflichtet, etwa den Arbeitsvertrag einzusehen oder Kontakt mit dem Arbeitgeber aufzunehmen.
Es bleibt aber die schwierige Frage, wie weit die Ermittlungen gehen müssen.

Der Arzt muß über Art und Umfang der tätigkeitsbedingten Anforderungen und Belastungen befragen. Was aber sind tätigkeitsbedingte Anforderungen? Kommt es hier auf die Anforderungen an, die im Arbeitsvertrag festgelegt sind oder kommt es auf die praktische Handhabung des Arbeitsverhältnisses unmittelbar vor der Krankheit an? Was ist also etwa mit dem Arbeitnehmer, der vor vielen Jahren eingestellt worden ist und der nach dem Arbeitsvertrag als Schlosser tätig werden
soll, der aber schon länger mit Handwerkszeugen nichts mehr zu tun hat, sondern als reiner Büroarbeiter die Schlosserei managt? Was ist in diesem Zusammenhang mit dem Weisungs- oder Direktionsrecht des Arbeitgeber? Dieses Weisungsrecht ist in der Praxis von erheblicher Bedeutung. Was ein Arbeitnehmer im Einzelnen tagtäglich zu tun hat, läßt sich in aller Regel nicht genau im Arbeitsvertrag festlegen. Das richtet sich vielmehr nach der Auftragslage und den betrieblichen Gegebenheiten, die sich sehr schnell verändern können. Wollte man etwa bei einem Bauarbeiter seine Arbeitsverpflichtungen genau im Vertrag festlegen, so müßte dort festgehalten sein, wann genau er auf welcher Baustelle arbeiten muß und welche Tätigkeiten er genau verrichten muß (Verschalen, Beton gießen, Kran führen usw.). Da solche genauen Festlegungen im Vertrag für die Praxis völlig ungeeignet sind, wird im Vertrag nur geregelt, daß unser Arbeitnehmer als Bauarbeiter eingestellt wird. Die weiteren Einzelheiten regelt der Arbeitgeber aufgrund seines Weisungsrechts. Er kann daher die Leistungspflicht des Arbeitnehmers nach Art, Ort und Zeit näher bestimmen. Das führt in unserem Zusammenhang zu dem Problem, ob der Arzt bei Feststellung der Arbeitsunfähigkeit das Weisungsrecht des Arbeitgebers einbeziehen muß. Muß er also ggf. berücksichtigen, daß die Sekretärin, die sich einen Finger der linken Hand gebrochen hat und daher nicht mehr am Computer arbeiten kann, vom Arbeitgeber Kraft Weisungsrechts für die Zeit ihrer Krankheit ausschließlich mit dem Bedienen des Telefons betraut wird?

Zu dieser Frage findet sich in einem arbeitsrechtlichen Standardkommentar der Hinweis, der anordnende Arzt habe, bevor er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstelle, zu erfragen und zu bedenken, ob der Arbeitsvertrag vorsehe, daß der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer vorübergehend
eine andere als die zuletzt ausgeübte Tätigkeit zuweisen könne. An anderer Stelle findet sich der Hinweis, bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit sei der Einsatzspielraum des einzelnen Arbeitnehmers zu berücksichtigen, soweit Anhaltspunkte dafür bestünden, daß der Arbeitgeber von einem bestehenden Spielraum Gebrauch machen werde.

Ich frage mich, welche Vorstellungen hinter diesen Empfehlungen an den Arzt stehen, und stelle mir ganz konkret einen praktischen Arzt vor, der an einem kalten Wintertag, eine Grippewelle tobt, den Warteraum voller hustender und schniefender Patienten hat, der binnen drei Minuten bei einem Patienten eine leichte Erkältung oder Heiserkeit festgestellt hat und der sich nunmehr eine halbe
Stunde mit diesem darüber unterhalten soll, ob er arbeitsunfähig ist oder nicht.

Mir scheint, die Anforderungen, die in der Literatur formuliert werden, verlangen von dem Arzt Unzumutbares. Zunächst dürfen m.E. die Anforderungen nur so hoch sein, daß der Arzt nicht zeitlich überlastet wird. Zum anderen kann es nicht Aufgabe des Arztes sein, zu überprüfen, ob der Arbeitgeber ggf. von seinem Weisungsrecht Gebrauch machen und den Arbeitnehmer anders einsetzen wird als bisher. Schon gar nicht kann es Aufgabe des Arztes sein zu prüfen, ob der
Arbeitgeber überhaupt in diese Richtung Weisungen erteilen kann. Schließlich ist daran zu erinnern, daß der Arzt sich ad hoc entscheiden muß, ob er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellt oder nicht. Da er nicht weiß, in welcher Weise der Arbeitgeber ggf. von seinem Weisungsrecht Gebrauch
macht, kann er dieses nicht in seine Beurteilung einbeziehen. Er muß von der bisher ausgeübten Tätigkeit ausgehen. Bzgl. dieser muß er den Patienten befragen. Bleiben Zweifel beim Arzt, ob der Patient seine Arbeit verrichten kann oder nicht, wird er letztlich den Patienten um eine Selbsteinschätzung bitten müssen und diese lediglich auf ihre Plausibilität überprüfen. Mehr kann vom
Arzt nicht verlangt werden.

Daß nicht nur der Referent des heutigen Abends erhebliche Vorbehalte gegen die den Ärzten auferlegte Ermittlungspflicht hat, sondern daß diese von den Ärzten geteilt wird, zeigt eine Befragung. Hier haben 57,7 % der Ärzte angegeben, es sei für sie im Einzelfall unzumutbar, die genauen, einzelnen Tätigkeitsfelder eines Arbeitnehmers zu ermitteln.

All das führt zu These drei:

Schließt die Krankheit nicht von vorne herein jegliche berufliche Tätigkeit aus, so muß der Arzt zur Feststellung, ob der Arbeitnehmer aufgrund seiner Krankheit die ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausführen kann, den Arbeitnehmer befragen. Weitere Ermittlungen, etwa durch Lesen des Arbeitsvertrages oder Kontaktaufnahme mit dem Arbeitgeber, muß der Arzt nicht anstellen. Die Befragung kann sich darauf beschränken, in welcher Eigenschaft der Arbeitnehmer beim Arbeitgeber beschäftigt ist und welche Tätigkeit er in der letzten Zeit ausgeübt hat. Der Arzt muß nicht erfragen, ob der Arbeitgeber aufgrund
seines Weisungsrechts den Arbeitnehmer in Zukunft ggf. anders einsetzen wird. Bleiben nach der Befragung beim Arzt Zweifel, ob der Arbeitnehmer seine Arbeit verrichten kann, wird die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer Selbsteinschätzung des Patienten, die der Arzt einer Plausibilitätsprüfung unterzieht, erfolgen müssen.

Die vierte und letzte These faßt meine heutigen Überlegungen zusammen und greift die im Thema formulierte Frage auf. Sie lautet:

Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist unentbehrlich für das Funktionieren des Systems der Entgeltfortzahlung. Sie auszustellen, ist keine Zumutung für den Arzt. Wohl aber werden an den Arzt bzgl. der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zum einen von den Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien und zum anderen von juristischer Seite unzumutbare Anforderungen gestellt. Diese Anforderungen müßten dringend überdacht werden und es müßte sich die Erkenntnis durchsetzen, daß die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im
Prozeß keinen hohen Beweiswert hat. Sie kann aus vielerlei Gründen falsch sein. Ein Grund liegt darin, daß - wie das LAG München formuliert hat - "auch Ärzte keine Übermenschen sind, denen in größerem Maße als anderen die Fähigkeit gegeben ist, unwahre Angaben ihrer Patienten zu durchschauen".