Eine Seminararbeit von Nora Kristin Steinbrecher

 


  I Inhaltsverzeichnis

I Inhaltsverzeichnis

II Die Grundproblematik

III Die Historische Entwicklung
 
1. Die Anfänge der experimentierenden Medizin
2. Forschung und Ethik in der Antike
3. Die Forschung am Menschen im Mittelalter
4. Renaissance und Aufklärung
5. Das 19. Jahrhundert
6. Die Medizin vor dem Zweiten Weltkrieg
7. Die Experimente des Dritten Reiches
8. Die Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg

IV Literaturverzeichnis
 

II Die Grundproblematik

Das Experiment in seiner klassischen Form hat mit leblosen Objekten zu tun und ist damit sittlich neutral. Aber sobald lebende, fühlende Wesen Versuchsobjekte werden, wie dies besonders in der medizinischen Forschung geschieht, erheben sich Gewissensfragen.
Das physikalische Experiment arbeitet mit Modellen in verkleinertem Maßstab. Etwas steht vertretend für die „wirkliche Sache". In der Humanmedizin hingegen muß mit dem Original selbst gearbeitet werden. Zuletzt muß immer der Mensch selbst die Kenntnis über sich liefern, und der bequeme Unterschied von unverbindlichem Versuch und verbindlicher Tat schwindet. Das Spannungsgefüge zwischen Hoffnung auf Fortschritt und Angst vor Verletzungen von Rechten der Versuchspersonen zählt zu den aktuellsten Problemen der gegenwärtigen Medizin und Ethik. Die Frage nach der Verantwortbarkeit von Menschenversuchen stellt sich hingegen nicht erst in der heutigen Zeit. Sie ist tatsächlich so alt wie die Geschichte der Medizin selbst.
 
 

III Die Historische Entwicklung

 

1. Die Anfänge der experimentierenden Medizin

Archäologische Funde belegen, daß bereits in der Steinzeit, also ca. 15.000 v.Chr., chirurgische Eingriffe vorgenommen wurden.
Die prähistorischen Menschen glaubten, Schmerz und Krankheit entstünden außerhalb des Körpers, durch Geister und andere geheimnisvolle Kräfte. Damit die feindseligen Mächte entweichen konnten, wurde die sog. Trepanation vorgenommen. Dabei wurde dem Leidenden mit Faustkeilen und bohrerähnlichen Instrumenten ein kleines Loch in den Schädel geschnitten. Tatsächlich erwies sich diese Methode - sofern der Eingriff überlebt wurde - gelegentlich als „erfolgreich". Denn durch die Öffnung wurde manchmal der Schädelinnendruck beseitigt und somit chronische Kopfschmerzen behoben. Die ausgeschnittenen Knochenstücke galten als wunderwirkendes Zaubermittel und wurden vermutlich als Amulette getragen. Trepanationen wurden zum Teil bis ins Mittelalter vorgenommen, in manchen Teilen Brasiliens und Australiens sogar bis ins 19. Jahrhundert n.Chr.

Während in Ägypten zwischen 3.000 und 500 v.Chr. die Medizin weitgehend Sache der Priester war, die an mystischen Behandlungsmethoden festhielten, teilte sich in Mesopotamien der medizinische Berufsstand in Zauberer (ashipu) und Ärzte (asu). Die Babylonier waren vermutlich die ersten, die die gesetzliche Regelung der Medizin anstrebten: Der aus dem 19. Jhdt. v.Chr. stammende Hammurabi-Kodex schrieb den Verdienst und die Verantwortlichkeiten des Arztes vor. So sollte ein Arzt, der „mit einem Bronzemesser eine große Operation an einem Adligen ausgeführt hat", zehn Silberschekel bekommen. Verursachte er dabei den Tod des Adligen, wurde ihm zur Strafe die Hand abgeschnitten.
 
 

2. Forschung und Ethik in der Antike

Die Entstehung der griechischen Hochkultur (5.Jhdt v.Chr.) brachte nicht nur politische und kulturelle Veränderungen hervor. Durch die Kolonisation und die Berührung verschiedener Kulturen verursachte sie gleichzeitig eine entscheidende Weiterentwicklung des menschlichen Geistes. Naturforscher und Philosophen versuchten, die Natur logisch zu erfassen, und stellten die mythische Weltanschauung in Zweifel. Ihr Ziel war es, ein allumfassendes Ordnungsschema zu entwickeln, mit dem sich die Welt erklären ließ.

Aufgrund dieser neuen Naturphilosophie machte man nicht mehr die Götter oder Sünden, sondern Störungen im Körper selbst für Krankheiten verantwortlich. Die Suche nach der Logik der Natur machte es erforderlich, mehr über den Organismus zu erfahren. So markiert das 5. vorchristliche Jahrhundert gleichzeitig den Anfang medizinischer Forschung. Zunächst dienten zufällige Knochenfunde und die Beobachtung von Krankheiten als Informations- und Wissensquelle. Auch auf die ursprünglich rituellen Tieropferungen richtete sich schließlich das medizinische Interesse und die Sektion von Tieren zu Forschungszwecken begann.

Bei einer dieser Tierbetrachtungen entdeckte man die sog. vier Kardinalssäfte: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Hieraus entwickelte sich die Viersäftelehre, die die nächsten 1.000 Jahre der abendländischen Medizingeschichte prägen sollte. Hierzu ordneten die Naturforscher in ihrem Bestreben, die Welt zu erklären die Kardinalssäfte in ein alles umfassendes Schema, den Makrokosmos ein.  Es entstand eine Entsprechungslehre zwischen Welt und Mensch. In allen Bereichen (z.B. Gestirne, Mineralien, Chemische Elemente, Tiere etc) sollte es eine innere Verwandtschaft nach Art einer alles durchziehenden Kette von Ähnlichkeiten geben. So sah man in dem Ungleichgewicht der vier Säfte im Körper eines Lebewesens die Ursache aller Krankheiten. Die Annahme von Analogien zwischen Mensch und Tier waren dabei eine weitere Konsequenz des naturphilosophischen Weltbildes. Diese Übertragbarkeit aller Untersuchungsergebnisse erklärt möglicherweise, warum im antiken Griechenland aller Wahrscheinlichkeit nach keine Menschenversuche durchgeführt wurden.

Weitere Faktoren untermauern die Annahme, daß man zu dieser Zeit von Humanexperimenten absah: Platon, der 347 v.Chr. starb, beschäftigte sich mit den Ideen hinter der greifbaren Welt und lehnte daher alles experimentelle ab. Der Idealismus seines Denkens beeinflusste vermutlich auch Ärzte seiner Zeit.

Fast gleichzeitig, da wahrscheinlich nicht von ihm selbst formuliert, wurde der Eid des Hippokrates niedergeschrieben. Dieser gilt bis heute als Grundsatz und unumstößliche Basis medizinischer Ethik. Der hippokratische Eid ist das früheste Dokument, daß ethische Prinzipien für die Heilberufe festlegt.

„Ich will Verordnungen zum Nutzen der Kranken treffen nach meinem Können und Urteil; ich will sie vor Schaden und Unrecht bewahren."

Neben diesem eher generellen Gebot, niemandem durch die Medizin zu schaden, legt der Eid auch andere, sehr konkrete Maximen ärztlichen Verhaltens fest, deren Gültigkeit heute zum Teil anerkannt, aber auch umstritten ist. Angeführt werden die ärztliche Schweigepflicht, aber auch das Verbot von Abtreibung und aktiver Sterbehilfe.

Die Formel „niemals Kranke zu schneiden" deutet darauf hin, daß man  Eingriffen in den menschlichen Körper eher skeptisch gegenübertrat. So war auch Hippokrates selbst als Anhänger der Viersäftelehre eher diagnostisch tätig und führte nur kleinere Eingriffe aus (Entfernung von Polypen).

Schon bald veränderte sich das medizinische Klima der Antike. Die zurückhaltende Medizin der Beobachtung wurde zunehmend biologischer und war von Experimentierfreudigkeit geprägt. Der Arzt und Philosoph Aristoteles übte großen Einfluß auf die Heilberufe aus. Seine Auffassungen bildeten die Basis für bedeutsame Entwicklungen im Bereich der Forschung. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Platon wurde sein Denken durch Realismus bestimmt. Er wandte sich allem Existenten zu und führte selbst sorgfältige Pflanzenstudien und Tierzergliederungen durch. Immer   stärker wurde der Glaube unter den Ärzten, die genaue Kenntnis auch der menschlichen Anatomie sei unerläßlich für den medizinischen Fortschritt.
Das besondere Interesse des Aristoteles galt jedoch dem lebendigen Körper. Denn durch den Tod, so glaubte er, verändere sich der Leib so grundlegend, daß Sektionen nur morphologische Kenntnisse vermitteln könnten. Auf den Lebenden hingegen seien die Ergebnisse nicht übertragbar.

Als 333 v.Chr. Alexander der Große sein Imperium gründete, wurde Alexandria das neue Zentrum der Welt. Da am Nil das Öffnen der Toten bei der Besorgung der Mumie üblich und sogar religiöse Verpflichtung war - die Griechen dagegen äscherten ihre Toten ein -  war fortan die moralische Grundlage für die Sektion menschlicher Leichen gegeben.

Die Ptolemäer in Ägypten waren neben ihrer unbarmherzigen Härte auch für die Unterstützung der Künste und Wissenschaften bekannt. So kam es in Alexandria nicht nur zur Forschung am toten Menschen, sondern auch zu sog. Vivisektionen, d.h. zu Öffnungen lebendiger Körper. Dies erscheint aus heutiger Sicht barbarisch. Die Geschichte der Anatomie muß jedoch besonders in zeithistorischem Zusammenhang betrachtet werden. Man kann davon ausgehen, daß die Lebendsektion in den Augen damaliger Mediziner ethisch weitaus weniger verwerflich erschien. Die Ärzte Alexandrias sahen - geprägt durch aristotelisches Gedankengut - in der Vivisektion  den einzigen Weg  zur Erkenntnis. Auch die Auswahl der Forschungspersonen war nicht beliebig. Vivisektionen wurden nur an zum Tode verurteilten Verbrechern vorgenommen. Letztendlich sah man das Opfer und das Leiden weniger durch den großen Nutzen für die Allgemeinheit gerechtfertigt.

Wie noch erläutert werden wird, haben Vivisektionen im Laufe der Jahrhunderte zwar immer wieder stattgefunden, aber sie wurden nie über ganze Epochen hinweg durchgeführt. So war die Forschung am lebendigen Menschen bereits im ersten Jahrhundert v.Chr., im alten Rom, verpönt. Das belegen die vollständig erhaltenen Schriften des Cornelius Celsus, der die Sektionsärzte des 3.Jahrhunderts als medizinische Mörder bezeichnete,obwohl er vielleicht selbst von deren Errungenschaften profitierte. Außerdem war es im römischen Reich verboten, menschliche Leichen zu sezieren.

Celsus war vermutlich kein Arzt, galt aber dennoch als Spezialist auf den Bereichen von Chirurgie, Dermatologie und Geburtshilfe. Er kannte den Unterschied zwischen Wunden und Geschwüren und wußte, daß man Venen abklemmen und so Blutungen verhindern kann. Offenbar nahm er auch komplizierte chirurgische Eingriffe wie das Entfernen von Kropf oder grauem Star vor. Celsus liefert in seinem Werk sogar erste Hinweise auf die Anfänge der plastischen Chirurgie, die ihren Ursprung vermutlich im alten Indien hat. Dort war das Abschneiden von Körperteilen als Strafe sehr verbreitet.

Einer der berühmtesten Ärzte der Geschichte, Claudius Galenus (129-199 n.Chr.) praktizierte im antiken Rom. Galen galt als Wunderkind, daß bis zu seinem 13. Lebensjahr bereits drei Bücher veröffentlicht hatte. Um sich bekannt zu machen, führte er seine chirurgische Geschicklichkeit öffentlich vor. Seine Spezialität war das Durchtrennen der Nerven am Hals eines lebenden Schweins. Es ist überliefert, daß Galen zahlreiche Tiere, darunter sogar zwei Elefanten sezierte. Soweit bekannt ist, untersuchte er jedoch wegen des Sezierverbotes nur zwei menschliche Leichen in Alexandria.   Schließlich wurde er in Rom Leibarzt von Marc Aurel. Galens Doktrinen übten einen bedeutenden Einfluß auf die Wissenschaft aus. So erforschte er beispielsweise die Entzündungsstadien, aber seine Überzeugung, daß die Eiterung  ein nützlicher Vorgang sei, führte dazu, daß seine Nachfolger die Wundeiterung förderten und die Idee vom „lobenswerten Eiter" entwickelten. Auch Galens anatomische Untersuchungen trugen unschätzbar viel zum medizinischen Wissen bei (z.B. über Nervenfunktionen, Ernährung des Gewebes, Bedeutung des Blutes), aber indem er seine an Tieren gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertrug, wurden viele seiner Ergebnisse verfälscht.

Galen war ein Verfechter der humoralen Theorie. Eine auf dieser Lehre basierende, anerkannte Heilmethode war das Schröpfen. Dabei zündete man Stoffasern in einem kleinen Gefäß an, das anschließend auf die Haut gesetzt wurde. Dadurch entstand ein Unterdruck in dem Gefäß, der „die schädlichen Säfte" aus dem Körper ziehen sollte. Galen verschaffte der griechischen Lehre von den vier Säften eine so starke Stellung, daß sie sogar Teil eines kirchlichen Dogmas wurde. Dies hatte verheerende Konsequenzen, denn in den folgenden Jahrhunderten riskierte aufgrund der Macht der Kirche jeder, der die Theorien der Viersäftelehre in Frage stellte, schwere Strafen. So wurde der Fortschritt in der Medizin über 1.000 Jahre lang aufgehalten.
 
 

3. Die Forschung am Menschen im Mittelalter

Nachdem das Römische Reich im 5.Jhdt n.Chr. unter dem Ansturm der germanischen Stämme zusammengebrochen war, verlagerte sich das Zentrum der abendländischen Gelehrsamkeit nach Konstantinopel (heutiges Istanbul), der Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Die Kirche erlangte schnell Reichtum und Macht auch in ganz Westeuropa, und schließlich wurde das Christentum 391 n.Chr. Staatsreligion.

Körper und Gesundheit galten im Mittelalter als untrennbar mit dem Kosmos verbunden. Man glaubte an eine Lenkung durch Planeten und Tierkreiszeichen. Die humoralen Lehren Galens über das gesundheitliche Gleichgewicht als Teil eines großen Planes paßten in dieses Weltbild und wurden von der Kirche begrüßt. Leichenöffnungen hingegen stießen bei den Geistlichen auf großen Widerstand, welcher schließlich in religiösen Verboten der Sektion gipfelte (z.B. die Bulle de sepulturis von Papst Bonifazius VIII.). Die Flamme des wissenschaftlichen Forschens war erloschen.

Zwar erstarrte der medizinische Fortschritt. Auf dem Gebiet der Krankenpflege jedoch gab es bereits im frühen Mittelalter erhebliche Neuerungen. Die Kirche lehrte zwar, daß die Krankheit eine Folge der Sünde sei, aber Krankenpflege war zugleich auch ein Akt christlicher Nächstenliebe. Ca. 400 n.Chr. entstanden zunächst Klöster, die auch Kranke für eine Zeitlang aufnahmen, und schließlich wurden Krankenhäuser gegründet, von denen eines in Konstantinopel sogar bis zu 7.000 Personen aufnehmen konnte. Die Klöster waren nicht nur die Zentren medizinischer Heilkunde, sie waren vor allem deswegen bedeutsam, weil dort die alten medizinischen Schriften aufbewahrt, studiert und übersetzt wurden.

Die praktizierenden Ärzte des 6. Und 7. Jahrhunderts erlernten ihr theoretisches Wissen an Höfen und Klosterschulen. Im 12. Jahrhundert entstand in Salerno die erste medizinische Fakultät. Schnell folgten weitere Lehrstätten in Toledo (1200) und Montpellier (1220).

Verstärkt wurden auch Gesetze, die die Medizin betrafen, erlassen. Vor allem die Qualitätssicherung des ärztlichen Dienstes stand dabei im Vordergrund. So mußte zur Zeit Kaiser Friedrichs II. ein Medizinstudent drei Jahre lang „das Studium der Wissenschaft von der Logik" betreiben, sowie fünf Jahre lang Medizin studieren. Nach Abschluß der Ausbildung, der Zeugnisse von anerkannten Lehrern erforderte, durfte ein Mediziner „gleichwohl nicht selbständig, sondern ein volles Jahr lang nur unter Anleitung eines erfahrenen Arztes den Heilberuf ausüben."

Eigenständige Haftungsnormen für durch einen Arzt begangene Körperverletzungen oder Tötungen kennt das geltende deutsche Strafrecht nicht mehr. Vielmehr sieht sich der Arzt heute unter das allgemeine Strafrecht gestellt. Artikel 134 der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. hingegen sah 1532 bereits eine eigenständige strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes sowohl für fahrlässige als auch vorsätzliche Tötungsdelikte vor.

Dies alles wurde überschattet vom Einzug der Pest in Europa. Die Seuche war zuerst vermutlich im 15. Jahrhundert v.Chr. in Asien und in späteren Epochen mehrfach auch in der westlichen Welt aufgetreten. Die erste große Pandemie erreichte Europa jedoch im 14.Jahrhundert. Die Pest wurde vermutlich im Jahre 1347 von genuesischen Schiffen in Sizilien eingeschleppt und gelangte über die Handelswege nach Pisa, in die Toscana und den Rest Italiens. Von dort breitete sie sich schließlich auch in England, Frankreich, Spanien und Deutschland aus.
Diese wohl größte Seuche in der Geschichte forderte allein in Europa 25 Millionen Menschenleben. Weltweit erreichte das Massensterben, nach Papst Clemens VI., die durch ihr Ausmaß erschreckende und durch ihre Genauigkeit beeindruckende Zahl von 42.836.486 Toten. Im 17. Jahrhundert wurde Europa von einer weiteren Pestepidemie heimgesucht, bei der ebenfalls unzählige Opfer starben.

Nach Ansicht der Kirche war der schwarze Tod die Strafe Gottes für das sündige Leben der Menschen. Die Ärzte hingegen neigten eher dazu, „Pestilenzdämpfe" zur Ursache zu erklären. Man probierte alle nur denkbaren Mittel zur Heilung der Seuche aus: Olivenöl galt als tödlich und Baden als krankheitserregend. Männer versuchten, sich vor der Pest zu schützen, indem sie keusch lebten. Andere glaubten, die Luft sei „steif" geworden und müsse durch laute Geräusche „aufgebrochen" werden. Schließlich erkannten die Ärzte jedoch das Prinzip der Ansteckung als Übertragungsweg. Auf Anweisung der Grafen vermauerte man in Mailand daraufhin die Häuser der Kranken, auch wenn sich gesunde Familienangehörige darin aufhielten. Aufgrund dieser drastischen Maßnahme verlor Mailand nicht einmal 15 Prozent seiner Bevölkerung. Der tatsächliche Erreger, das Pestbakterium, wurde erst 1894 bei einer Pestepidemie in Hongkong entdeckt.
Vermutlich war die Seuche eine der wesentlichen Ursachen für den medizinischen Stillstand während des Mittelalters.
 

4. Renaissance und Aufklärung

Etwa 75 Jahre nachdem der „schwarze Tod" über Italien und den Rest Europas hinweggerollt war, brach zu Beginn des 15.Jahrhunderts die Renaissance an und mit ihr eine neue Ära der medizinischen Forschung. Mit dem Humanismus gewann alles, was sich auf den Menschen bezog eine neue Bedeutung. Neben der Seele und der Sorge um ihre Ausgeglichenheit fand endlich auch der Körper wieder aufmerksame Beachtung. Dabei besann man sich zurück auf die medizinischen Werke der Antike, deren Verbreitung seit der Erfindung des Buchdrucks im Jahre 1455 explosionsartig voranschritt.

Aber auch die experimentelle Medizin erlebte eine Wiedergeburt. Nach einem langen Sezierverbot während des Mittelalters änderte sich die Einstellung der Kirche schon gegen Ende der Epoche: Papst Alexander V. wurde 1410 seziert und schließlich deklarierte die theologische Fakultät der Universität Salamanca im Jahre 1556, daß „die Eröffnung menschlicher Leichen nützlich und daher den Christen erlaubt" sei. Die Wiedereinführung der Sektion war an eine Bedingung geknüpft: man hatte nur Zugang zu Leichen von außerhalb der Gesellschaft stehenden Personen wie Delinquenten und Verbrechern.

Erste Erfolge verbuchte so Leonardo Da Vinci, der vermutlich nachts heimlich sezierte. Er fertigte über 750 anatomisch genaue Zeichnungen an, z.B. über die Gebärmutter mit einem Fötus in richtiger Lage, oder über Körperquerschnitte. Ein Botaniker, Andrea Cesalpino stieß schließlich auf den Lungenkreislauf im Körper. Nach 1600 sind nur noch wenige zusätzliche Entdeckungen auf dem Bereich der  Anatomie gemacht worden.

Doch auch die Chirurgie machte beeindruckende Fortschritte. Viele hervorragenden Chirurgen konnten Erfahrung und Wissen auf dem Schlachtfeld am lebenden Objekt erwerben. Sie beschäftigten sich mit allen Arten von Schwert- und Stichverletzungen, sowie mit klaffenden Wunden, verursacht durch die gerade erst erfundenen Gewehre und Kanonen. Anfangs glaubten die Chirurgen, solche Wunden seien vergiftet, weil sich meist eine Infektion entwickelte. Um das Gift zu paralysieren und die Blutungen zu stillen, goß man siedendes Öl auf das verletzte Fleisch - eine Marter, die viele Soldaten nicht überlebten. Erst als dem Bader Ambroise Paré 1536 bei der Belagerung Turins das Öl ausging, änderte er zufällig das Verfahren. Er behandelte die Verletzungen mit Eigelb, Rosenöl und Terpentin. Er entwickelte auch eine Methode zum Abbinden von Blutgefäßen, mit der Amputationen fortan besser gelangen.

Die Sektion am lebenden Menschen hingegen war auch in der Renaissance verboten. Neben der strafschärfenden Sektion von Hingerichteten wurde von Medizinern und Juristen auch die strafvollziehende Vivisektion des Hinzurichtenden diskutiert. Es wurde eine sog. scharfrichterliche Medizin gefordert. „So könnte zum Beyspiel ein Weibsbild, welches den Strang verwirkt hatte, zum Kaiserschnitte verurtheilt werden."

Die Idee des medizinischen Strafvollzugs war dem gebildeten Bürgertum vertraut und basierte auf aristotelischen Theorien, die im Zuge der Rückbesinnung auf die Antike neue Relevanz erhielten. Befürwortet wurde die Vivisektion zum Beispiel von Joseph-Ignace Guillotin, dem Arzt nach dem bezeichnenderweise die Köpfmaschine der  französischen Revolution benannt wurde. Auch Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Präsident der Akademie der Wissenschaften in Berlin, schlug vor, Hinrichtungen durch die Erprobung neuartiger Operationsmethoden und durch Experimente mit Giften und Antidota zu ersetzen und in die Hände der Ärzte zu legen.

In der Regel lehnten Mediziner derartige Vorschläge zur weiteren Nutzung von Todesstrafen jedoch entschieden ab, und zwar aus berufsethischen, allgemein moralischen aber auch praktischen Gründen. Chirurgen und Anatomen waren ohnehin dem Vorurteil ausgesetzt, sie würden Vivisektionen durchführen, weil sie Hingerichtete zu Lehrzwecken erwarben.

1603 entdeckte der britische Arzt William Harvey den Blutkreislauf im Körper als Ergebnis des Herzschlages und widerlegte damit als erster öffentlich Galens Theorie, wonach der Körper täglich große Blutmengen produziert und wieder vernichtet. Harveys Erkenntnisse hatten erste Versuche mit Bluttransfusionen zur Folge: 1667 übertrug der Engländer Richard Lower einem seiner Studenten zweimal Schafblut. Auch in Frankreich wurde die Übertragung von Tierblut auf den menschlichen Organismus untersucht. Da jedoch viele Versuchspersonen bei dem Verfahren zu Tode kamen, wurde es verboten.

Die Jahrhundertwende brachte vor allem medizintechnische Errungenschaften mit sich: eher zufällig entdeckten wahrscheinlich die holländischen Linsenschleifer Hans und Zacharias Jansen das mehrlinsige Mikroskop und eröffneten so einen völlig neuen Bereich medizinischer Forschung. Im Jahr 1709 erfand der deutsche Physiker Gabriel David Fahrenheit das Alkohol- und fünf Jahre später auch das Quecksilberthermometer.

Die Pest wurde als vorherrschende epidemische Krankheit von den Pocken abgelöst. Die erste einigermaßen wirksame Bekämpfung war Anfang des 18. Jahrhunderts die Variolation: Mit dem aus einem Pockenbläschen auf die angeritzte Haut eines Gesunden aufgetragenen Eiter erzielte man einen Immunisierungseffekt. Edward Jenner erforschte diese Methode fast 20 Jahre lang, bis er schließlich 1796 seine Theorie erstmals im Menschenversuch überprüfte. Er impfte einen achtjährigen Jungen mit Rinderpockenlymphe und sechs Wochen später mit Pocken. Der Junge erwies sich als immun. Die Pockenschutzimpfung war geboren. Nachdem Jenner das Experiment an 23 weiteren Personen durchgeführt hatte, veröffentlichte er seine Befunde. Bis 1801 waren bereits 100.000 Engländer geimpft.

Die chirurgischen Methoden verbesserten sich weiter. Der Chirurg William Cheselden konnte einen Blasenstein in 45 Sekunden entfernen. Angesichts der Tatsache, daß der Eingriff ohne Narkose ausgeführt wurde, war dies ein Segen für den Patienten.
 
 

5. Das 19. Jahrhundert

Der wirtschaftliche Aufschwung im Zeitalter der industriellen Revolution gab Medizinern und Wissenschaftlern die Motivation, sich der Forschung zu widmen, und die Finanzmittel, um diesen Wunsch umzusetzen.

Schon seit frühester Zeit hatte man nach Möglichkeiten gesucht, Schmerzen zu lindern, um chirurgische Eingriffe zu ermöglichen und alltägliche Leiden zu lindern. Jahrhundertelang hatte man für die allgemeine Anästhesie nur die Wahl zwischen Opium und Alkohol. Doch bald erkannte man, daß entweder die Wirksamkeit zu wünschen übrig ließ oder die ausreichende Dosis tödlich sein kann. Also mußte man meist von jeglicher Betäubung absehen.

Humphrey Davy stellte 1799 Stickoxidul her. Als er es einatmete, brach er nicht nur in Gelächter aus, sondern empfand auch ein körperliches Wohlbefinden. Er lud seine Bekannten ein, um dieses Erlebnis  mit ihnen zu teilen. Schon bald gab es beiderseits des Atlantiks „Lachgasparties", doch niemand dachte an eine medizinische Anwendung. Genauso verhielt es sich mit Ether, das Michael Faraday im Jahr 1815 entdeckte und somit den Trend für „Etherparties" setzte. Erst rund 30 Jahre später erkannte ein junger amerikanischer Landarzt bei dem „Ethervergnügen" die Betäubungskomponente des Gases. 1842 verabreichte er es einem kleinen Jungen, bevor er ihm Zysten am Hals entfernte. Fortan wurde Ether auf weiten Bereichen der Allgemein- und Zahnmedizin angewendet.
Daraufhin suchte man nach begrenzter wirkenden Substanzen und verfiel auf Kokain. Als man in den USA die Sucht- und Mißbrauchsgefahr erkannte, wurde die Verwendung der Droge gesetzlichen Kontrollen unterworfen. Dasselbe galt für Opium und seine Derivate. Bis 1938 waren über 25.000 Ärzte wegen Drogenvergehen angeklagt worden.

Eine bemerkenswerte Theorie mit verhängnisvollen Folgen stellte Charles Darwin 1858 auf. Schon seit langem rätselten die Wissenschaftler über die Frage der Vererbung. Seit Jahrhunderten wurden bereits fruchtbarere und ertragreichere Pflanzenarten gezüchtet, indem man sich auf Exemplare mit gewünschten Eigenschaften konzentrierte, aber niemand wußte, warum es funktionierte. Darwin untersuchte alle verfügbaren Indizien und konstruierte daraus eine Theorie zu der Frage, wie Arten sich im Laufe der Zeit durch natürliche Selektion entwickeln. Der Philosoph Herbert Spencer prägte später den Begriff "survival of the fittest". Der sog. Darwinismus sorgte in der westlichen Welt für gewaltiges Aufsehen. Zum einen widersprach nämlich die Behauptung, daß Arten sich verändern, der biblischen Lehre, wonach die Welt und alle Arten zur gleichen Zeit von Gott erschaffen wurden. Zum zweiten schloß die Aussage, daß höher entwickelte Arten aus einfacheren hervorgehen, auch den Menschen mit ein. Das bedeutete, daß der Mensch in irgendeiner Form mit den anderen Primaten - also den Affen - "verwandt" ist - eine Erkenntnis, die für viele völlig unvorstellbar war.

Darwin war es nicht gelungen, zu erklären, wie die verschiedenen Eigenschaften von einer Generation zur nächsten weitervererbt wurden. Diesen Teil des Puzzles fügte schließlich 1866 Johann Mendel, ein Mönch aus Brünn, hinzu. In Kreuzungsversuchen mit verschiedenen Erbsen- und Bohnensorten wies er nach, daß bestimmte Sorten besonders häufig auftauchten, also dominant waren. Solche, die eher selten waren nannte er rezessiv. Seine Ergebnisse drückte Mendel in einfachen Zahlenverhältnissen aus. Die Lehren Darwins und Mendels verschmolzen zu einer zusammenhängenden Evolutionstheorie und markierten den Beginn der Genetik.

Große Fortschritte wurden im Bereich der Krankheitsforschung gemacht. Zu Beginn des Jahrhunderts war es den Wissenschaftlern gelungen, die Existenz von Mikroben nachzuweisen. Man wußte ebenfalls, daß diese in Zusammenhang mit bestimmten Krankheiten standen. Louis Pasteur beschäftigte sich mit Gärungsvorgängen und wies nach, daß „Keime" in der Luft vorhanden sind. Er erkannte, daß sie Ursache und nicht Produkt von Gärung, Verwesung und Infektion sind. Der Grundstein der Bakteriologie war gelegt.

So gelang es ihm auch, Mikroben aus der Milch zu entfernen (pasteurisieren), womit er eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel für die Bevölkerung „sicherte".

Pasteur experimentierte vor allem im Rahmen der Tollwutforschung verstärkt mit Tieren. So infizierte er zahlreiche Kaninchen, um ihnen nach ihrem Tode das Rückenmark zu entfernen, aus welchem er Impfstoffe gewann. Er zögerte jedoch, Menschen zu impfen, da die Tollwut so schrecklich verlief und immer tödlich endete. Als er an einen Selbstversuch dachte, nahm ihm das Schicksal die Entscheidung ab: am 6.Juli 1885 erschien ein neunjähriger Junge bei ihm, der zwei Tage zuvor 14mal von einem vermutlich tollwütigen Hund gebissen worden war. Der Arzt hatte das Kind zu Pasteur geschickt, weil er keinen Ausweg wußte. Der Junge wurde zwei Wochen lang täglich geimpft und überlebte. Von 2490 Menschen, die das Serum erhielten, starben 11. Obwohl Pasteur vielfach gelobt wurde, war er auch massivster Kritik ausgesetzt. Es gab sogar Beschuldigungen wegen fahrlässiger Tötung.

Nach Pasteurs Tod orientierte sich der junge Landarzt Robert Koch an seinen Ergebnissen und forschte weiter an Bakterien. 1876 isolierte er das Bakterium, das den Milzbrand auslöst. In den Folgejahren erzielte Koch weitere Ergebnisse von großer Bedeutung für die Volksgesundheit: er spürte den Tuberkuloseerreger auf, fand den Kommabazillus, der die Cholera auslöst und befasste sich mit Pest, Rinderpest und Malaria.

Pasteur und Koch erwiesen sich als Vorreiter der Mikrobiologie. Unter dem Einfluß ihrer Forschungsergebnisse wurden in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Impfstoffe entwickelt, wie z.B. gegen Diphterie und Tetanus. Joseph Lister, ein Anhänger der „Keimtheorie" nahm daraufhin 1865 die erste keimfreie Operation vor.

Die herausragenden Forschungsergebnisse des 19.Jahrhunderts waren das Resultat ausgedehnter medizinischer Forschungen. Experimente an Tier und Mensch wurden in großem Stil durchgeführt und es ist daher nicht verwunderlich, daß gerade im 19. Jahrhundert die experimentelle Humanmedizin politisch und ethisch heiß diskutiert wurde.

Neben Louis Pasteurs führten auch zahlreiche andere Wissenschaftler Versuche durch.

In Michigan in den USA beispielsweise befasste sich William Beaumont, ein Arzt der Armee, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Verdauung beim Menschen. Vor seiner Zeit hätten solche Beobachtungen noch nach der Vivisektion verlangt. Beaumont hingegen untersuchte drei Jahre lang die Schußwunde des Soldaten Alexis St. Martin. Er ließ die Wunde des Mannes bis auf eine Öffnung verheilen und begann so, den Verdauungstrakt St. Martins zu examinieren. Beaumont verabreichte seiner Versuchsperson verschiedene Lebensmittel und lernte so vieles über die Magensäfte und die Darmfunktionen. Der unglückliche Alexis, den die Experimente langweilten, versuchte mehrfach, davonzulaufen vor dem Arzt, der ihn schier zu jagen schien. Während Beaumont überwiegend Anerkennung für seine Arbeit erntete und eine moralische Bewertung seines Handelns weitgehend unterblieb, schlugen bei anderen Gelegenheiten in Europa die Wogen der Empörung hoch.
In den letzten Jahren des 19.Jahrhunderts kam es in Deutschland zu einer lebhaften, von breiten Schichten getragenen öffentlichen Diskussion über die Zulässigkeit medizinischer Experimente am Menschen, die Tagespresse, Parlamente und Gerichte beschäftigte.

Es wurden Versuche mit Patienten vorgenommen, die an fatalen Geschlechtskrankheiten litten.  Schauplatz dieser Experimente war in den meisten Fällen das Krankenhaus. So berichtete Julius Schreiber in einem Vortrag über Versuche zu der Frage, wie Neugeborene auf Tuberkuloseimpfungen reagieren. Dabei wurden 40 Neugeborene einer geburtshilflichen Abteilung geimpft. Zwar kam bei dem Experiment keines der Kinder zu Schaden, aber Schreiber selbst berichtet, die Nacht nach den Impfungen schlaflos verbracht zu haben, in dem Glauben „sie wimmern zu hören".

Im selben Jahr trug der schwedische Arzt Carl Janson, der ähnliche Versuche durchgeführt hatte, ebenfalls moralische Bedenken vor:
„Vielleicht hätte ich zuerst an Thieren Versuche anstellen sollen...Kälber waren indessen ihrer Kosten wegen schwer zu beschaffen.., weshalb ich - mit gütiger Erlaubnis des Oberarztes... meine Experimente im allgemeine Findelhaus begann und darnach vielleicht Experimente mit Thieren zu machen gedachte."

Doch es gibt noch weitere Beispiele:
Zwei Sterbende galten als „geeignetes Material", um an ihnen die Entwicklung von Furunkeln durch Einreiben von Staphylokokkenkulturen in die Haut zu erforschen. Ein Kinderarzt verfütterte wurmeierhaltige Aufschwemmungen aus menschlichem Kot an drei Kinder und zögerte in einem Fall die Wurmabtreibung um Wochen hinaus, um die Entwicklung der Parasiten beobachten zu können. Zwei Forscher benutzten für Untersuchungen über Harnröhrenentzündungen „mit Vorliebe jugendliche Individuen, die nie eine Gonorrhoe durchgemacht hatten", und injizierten ihnen ohne deren Wissen Bakterienaufschwemmungen in die Harnröhre.

Das herausragendste Beispiel humanexperimenteller Medizin im 19.Jhdt ereignete sich 1892 und ist als „der Fall Neisser" bekannt. Albert Neisser war Arzt und Wissenschaftler und erforschte, ob sich durch Impfungen mit dem Serum von Syphiliskranken eine Schutzimpfung noch nie erkrankter Personen erreichen lasse. Er benutzte dabei zellenfreies Serum. Zunächst impfte er drei Kinder und eine junge Frau subkutan. Alle vier Personen blieben auch Jahre später erscheinungsfrei. Vier weitere Patientinnen, von denen drei der Prostitution nachgingen hingegen erhielten das Serum intravenös und erkrankten. Neisser stellte also fest, daß die Impfungen jedenfalls nicht zur Immunität führten. Viel schwerwiegender ist jedoch die Frage, ob die Syphilis nicht gerade durch die Impfungen selbst hervorgerufen wurde. Neisser verneinte dies, da er von einer „natürlichen" Infektion der Prostituierten ausging.

Die Münchener Freie Presse hingegen warf Neisser vor, in unverantwortlicher Weise Menschen der Gefahr einer Infektion ausgesetzt zu haben. Diese Anschuldigungen potenzierten sich in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt deshalb, weil Neisser Jude war. Aus Neissers zellfreien Impfungen wurden so „Versuche an acht unschuldigen Kindern, die wir sogar bei Vivisektionen bei Thieren mißbilligen würden." Dies zeigt deutlich, wie emotionsbehaftet die Berichterstattung war.

Gegen Neisser wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, in dem er mit einem Verweis und einer Geldstrafe i.H.v. DM 300,- bestraft wurde. In der Begründung wurde darauf abgestellt, Neisser habe seine Pflichten als Arzt verletzt, indem er Patienten geimpft habe, ohne sich der Zustimmung dieser Personen oder ihrer gesetzlichen Vertreter gesichert zu haben. Dieses Urteil vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, daß Neissers Experimente nicht außerhalb dessen standen, was im ausklingenden 19.Jhdt allgemein üblich schien.

Die Berichte zeigen zwar, daß auch die Ärzte nicht frei von moralischen Bedenken waren,  daß grundsätzlich der Versuch am Menschen aber auch ohne dessen Einwilligung als ethisch hinnehmbar galt. Neisser selbst rechtfertigte sich beispielsweise folgendermaßen:

„Wäre es mir um eine formale Deckung zu thun gewesen, so hätte ich mir die Einwilligung gewiss beschafft, denn es ist nichts leichter, als sachunverständige Personen durch freundliche Überredung zu jeder gewünschten Einwilligung zu bringen, wenn es sich um harmlose Dinge handelt, wie eine Einspritzung."

Man muß sich also fragen, woher Forscher und Ärzte sich berechtigt fühlten, derartig mit ihren Patienten zu verfahren. Dabei trifft man auf eine Reihe typischer Rechtfertigungsgründe.

Die Moral des 19.Jahrhunderts war sehr pragmatisch. Besonders deutlich wird dies an der Argumentation Claude Bernards. Bernard untersuchte vor allem die Blutgefäße und ihre Steuerung und führte Versuche vor allem an Tieren durch. Er vertrat 1865 die These, Beobachtung zeige auf, das Experiment aber lehre. Deshalb stand er vor allem in der Kritik der sog. Antivivisektionisten, zu denen auch Bernards Frau gehörte, die sich schließlich wegen seiner Experimentierfreudigkeit von ihm scheiden ließ.

Ein berühmtes Zitat Bernards lautet in der Übersetzung:
„Unter allen Experimenten die an Menschen durchgeführt werden könnten, sind die, die nichts als Schaden anrichten, verboten; solche, die unschuldig sind, sind erlaubt, und solche, die Gutes erreichen könnten sind geboten."

Er und viele seiner Zeitgenossen benutzte also die in der Medizin übliche Abwägung von Nutzen und Schaden. Der mögliche Schaden der Versuchsperson wurde dabei dem erhofften Nutzen für die Allgemeinheit gegenübergestellt. Eben an der Nützlichkeit medizinischer Fortschritte bestand für die Forscher ebensowenig Zweifel wie daran, daß sie auf dem einzig gangbaren Weg des naturwissenschaftlichen Experimentes leicht zu erreichen seien.

Eine wesentliche Rolle spielte auch die Arzt-Patienten-Beziehung im 19.Jahrhundert. Patienten der öffentlichen Krankenhäuser waren überwiegend ungebildete Leute aus armen Verhältnissen, deren Existenz der Allgemeinheit zur Last fiel und ihr nichts zu bieten schien. Die Fälle, in denen die Personen überhaupt erkannten, was mit ihnen vorging, waren vermutlich selten. Darüber hinaus verfügten die Krankenhäuser über strenge Hausordnungen. Verstöße wurden geahndet, und die Patienten waren übergeordnete Autorität ohnehin gewohnt. Nicht zuletzt galt es als eine Art Gegenleistung für die Unterbringung und Behandlung im Krankenhaus, daß die Armen für die erwiesenen „Wohltaten" ihren Körper zu Unterrichts- und Forschungszwecken, und nach ihrem Tode auch für die Sektion hergaben.

Strafgesetzliche arztrechtliche Sondernormen bildeten im 19.Jhdt dagegen eher die Ausnahme. Das österreichische Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Übertretungen von 1803 strafte mit Praxisverboten und Geldbußen. Auch das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg von 1839 enthielt einen Sondertatbestand für Ärzte, Geburtshelfer und Hebammen, die durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursachten. Allerdings wurden auch später immer wieder Forderungen nach Sonderregelungen für die Heilberufe laut, allerdings eher im Sinne einer Haftungsentlastung der Ärzte. So sprach sich z.B. Rudolf Virchow, ein Mediziner der auch politisch tätig war, verstärkt für die Haftungsbegrenzung bei Ärzten auf grobe Fahrlässigkeit aus.

Wie auch in Resteuropa, war die Sektion menschlicher Leichen auf den Britischen Inseln seit der Zeit Heinrichs VIII. nur an hingerichteten Verbrechern erlaubt. Mit der Ausweitung medizinischer Fakultäten und ihrer Forschung wurden Leichen im 19. Jahrhundert eine knappe und äußerst begehrte Ware. Sogar William Harvey war gezwungen gewesen, den Körper seines verstorbenen Vaters zu sezieren. Aus diesen Gründen entwickelte sich eine kriminelle Subkultur. Medizinstudenten gingen nachts auf Grabraub und schließlich nahmen sich sogar professionelle Banden der Leichenbeschaffung an. Sogar anerkannte Chirurgen wie der englische Sir Ashley Cooper arbeiteten eng mit Grabräuber-Banden zusammen. Dabei wurde strengstens darauf geachtet, daß lediglich die Leichen, aber niemals das Totenhemd aus dem Sarg entfernt wurden. Denn während letzteres als Diebstahl galt, war das Stehlen von Leichen ein nur gering bestraftes Vergehen.
Manche Räuber wollten sich allerdings die anstrengende Arbeit erleichtern und lieferten besonders "frische" Leichen. William Burke und William Hare, die wohl berühmtesten Grabräuber pflegten den Gang der Dinge zu beschleunigen, indem sie ihre Opfer zuerst betrunken machten und dann erstickten, um sie schließlich mit hohem Gewinn an die Anatomen zu verkaufen. 1828 wurden sie jedoch erwischt und Burke wurde am 18. Januar 1829 vor 25.000 Schaulustigen gehängt. Sein Körper wurde zum Sezieren freigegeben.
Das Ausmaß des Leichenraubes führte schließlich im Jahre 1832 zum sog. Anatomy Act. Von da ab konnte jeder, der eine Leiche ohne Genehmigung zu anatomischen Zwecken untersuchte, inhaftiert und bestraft werden.
 
 

6. Die Medizin vor dem Zweiten Weltkrieg

Schon im vorangegangen Jahrhundert hatte man erkannt, daß Blutübertragungen erfolgreicher sind, wenn man Blut derselben biologischen Art  überträgt. Dennoch hatte ein Großteil solcher Transfusionen schlimme Reaktionen beim Patienten zur Folge. Karl Landsteiner (1868 - 1943) nahm sich im Jahre 1900 vor, die Faktoren zu identifizieren, die hierfür verantwortlich waren. Er stellte eine Reihe von Blutmischungen her, und beobachtete Mischungen, aber auch Verklumpungen. Von diesen Ergebnissen schloß Landsteiner aus die Existenz der Antigene, A, B und 0. Landsteiner hatte viel Glück. Da an seinen Versuchen nur wenige Personen beteiligt waren, wäre es durchaus möglich gewesen, daß alle die gleiche Blutgruppe besaßen. Erst 1902 stellte sich nach weiteren Experimenten heraus, daß es noch eine vierte Blutgruppe gibt. Heute kennt man mindestens 14 verschiedene Blutgruppensysteme. Im Jahre 1939 entdeckten Philip Levine und Rufus Stetson zufällig den sog. Rhesusfaktor, als eine Frau bei einer Totgeburt Verklumpungen aufwies, obwohl man ihr Blut ihres Mannes, der wie sie selbst Gruppe 0 hatte, übertrug.

Die wohl bedeutendste Entdeckung des 20. Jahrhunderts wurde bereits 1928 gemacht. Alexander Fleming stieß zufällig auf die erste antibiotische Substanz, das Penicillin. Zwar erkannte er die Tragweite seines Fundes noch nicht. Dennoch war seine Entdeckung die Grundlage für die Entwicklung des Medikaments, die schließlich 1940 von dem australischen Pathologen Howard Florey vollzogen wurde.
 
Schon der Beginn des 20. Jahrhunderts sollte in die Annalen der Humanforschung eingehen. Im Juni 1900 trafen sich vier amerikanische Mediziner in Kuba, das damals bereits unter US-Verwaltung stand. Sie sollten das Gelbfieber studieren, eine Krankheit, an der in Havanna in wenigen Jahrzehnten über 35.000 Menschen zugrunde gegangen waren, und die nach und nach auch unter den dort stationierten US-Soldaten ihre Opfer forderte.

 Man vermutete seit langem, daß die Krankheit durch Mückenstiche übertragen wurde. Deshalb wurden Mücken gezüchtet. Bevor der Leiter der Kommission, Major Walter Reed jedoch Kuba erreichte, erkrankten bereits zwei Ärzte aus seinem Team. Einer der beiden, James Carroll, gesundete schließlich nach längerer Krankheit. Dr. Jesse Lazear aber starb am Gelbfieber. Man vermutet, daß es sich hierbei um freiwillige Selbstversuche handelte. Zwar berichtete Reed in seinem Report an die US-Regierung, Lazears Erkrankung sei ein Unfall gewesen, wahrscheinlich tat er dies jedoch seinem verstorbenen Freund zuliebe, der sich vor seinem Tod Sorgen um die Auszahlung seiner Lebensversicherung gemacht hatte.

Damit war jedoch noch immer nicht erwiesen, ob die Krankheit tatsächlich durch die Insekten übertragen wird, denn es wäre auch möglich gewesen, daß die Ansteckung der beiden Mediziner anderswo rein zufällig erfolgte.
Um den nötigen Beweis zu führen, plante Reed ein Experiment, bei dem ein Gruppe gesunder Männer in Quarantäne gehalten und dann den Überträgerinsekten ausgesetzt werden sollte, während eine zweite Gruppe von den Mücken isoliert bleiben und gleichzeitig zwischen den Betten und verseuchten Kleidern der Gelbfieberkranken leben sollte. Hierzu benötigte Reed zunächst freiwillige Versuchspersonen. Der regierende Gouverneur Kubas eilte ihm zu Hilfe, indem er nicht nur Geld zur Vergütung der Freiwilligen, sondern auch Räumlichkeiten in einem entlegenen Teil Kubas zur Verfügung stellte. Aus der ersten Versuchsgruppe erkrankten 80 Prozent der Versuchspersonen, aus der zweiten keiner. Alle Teilnehmer überlebten das erfolgreiche Experiment.

Zwar wurden alle Testpersonen über die Versuche aufgeklärt, dennoch erstaunt es, daß die Öffentlichkeit nur wenig Notiz von den Forschungsarbeiten der Amerikaner nahm. Ein wesentlicher Grund liegt vermutlich im glücklichen Ausgang des Experiments. Auch die gute medizinische Versorgung der 13 Freiwilligen, von denen immerhin neun erkrankten, trug wahrscheinlich zur öffentlichen Akzeptanz des Unternehmens bei.

Ganz anders verhielt sich dies bei anderen Menschenversuchen nach der Jahrhundertwende.

Ein Paradebeispiel für die Skrupellosigkeit, mit der zu Beginn des Jahrhunderts geforscht wurde ist die Tuskegee Syphilis Studie, ein Langzeitexperiment der US-Regierung. Beobachtungsobjekt waren 399 Männer, die an Syphilis erkrankt waren und 201 gesunde Männer, die als Kontrollgruppe dienten. Alle Testpersonen waren schwarze Baumwollpflanzer aus Alabama. Die Verantwortlichen für die Studie täuschten die Männer, indem sie ihnen weismachten, sie würden gegen "schlechtes Blut"  behandelt. Dabei verwehrten sie den Kranken absichtlich die Behandlung der Syphilis und garantierten darüber hinaus, daß sie bis 1972 auch zu keiner anderen Quelle Zugang erhielten, die sie hätte heilen können. Als Gegenleistung erhielten die Männer freie Verpflegung, medizinische Behandlung und eine Versicherung, die im Todesfalle die Bestattungskosten übernahm. Vermutlich starben über 100 Personen als direkte Folge des Versuches.
Das Tuskegee-Experiment gilt als längste untherapeutische Studie an Menschen in der Geschichte der Medizin. Noch heute existiert in den USA ein Kommitee, dessen Ziel die Wiedergutmachung an den Versuchspersonen und ihren Angehörigen ist.

Basierend auf den Erkenntnissen von Robert Koch gelang es 1921 den Wissenschaftlern Léon Charles Albert Calmette und Camille Guérin, eine orale Tuberkuloseschutzimpfung mit dem Bakterium BCG zu entwickeln. Während in Frankreich zahlreiche Kinder das Serum verabreicht bekamen, verhielt man sich in Deutschland eher zurückhaltend und das Reichsgesundheitsamt warnte vor der Impfung. Dennoch entschlossen sich die Lübecker Ärzte Ernst Altstaedt und Georg Deycke, der Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, die Impfung einzuführen.
Schon vor dem offiziellen Impfstart am 26. Februar 1930 wurden drei Säuglinge geimpft. Informations- und Einwilligungsformulare für die Eltern wurden verteilt und innerhalb der nächsten Monate wurde etwa der Hälfte aller Neugeborenen das Serum ohne Voruntersuchung injiziert. Wegen der nachlässigen medizinischen Betreuung waren es die Eltern, die erste Krankheitssymptome bei ihren Kindern feststellten. Zwei Monate nach der ersten Impfungen waren bereits drei Kinder gestorben.
Um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, setzte man die Immunisierung zum Schein fort und Deycke vernichtete die meisten vorhandenen Impfstoffreste. Noch immer erfolgten jedoch keine Vorsorgeuntersuchungen, und so kostete der Immunisierungsversuch 77 Kinder in Lübeck das Leben. Wie sich später herausstellte war nicht das in Frankreich entwickelte Impfserum Todesursache. Tatsächlich war es bei der Herstellung des Stoffes im Krankenhaus zu einer Verunreinigung des Serums mit dem virulenten Bakteriumstamm "Kiel" gekommen, welcher die Ansteckung verursachte. Damit war zwar eindeutig bewiesen, daß die BCG-Impfung unschädlich ist, dennoch wurden in Deutschland keine Immunisierungen mehr bekannt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Impfung in der früheren DDR gesetzlich vorgeschrieben. Heute gilt sie in Deutschland als empfohlene Impfung.

Die Lübecker Ereignisse waren zwar keine unmittelbare Folge von Menschenversuchen, unter moralischen Gesichtspunkten hatte das Unglück aber durchaus etwas mit dem experimentierartigen Vorgehen der Ärzte zu tun. Nicht zuletzt waren dort weder die Voraussetzungen für eine sachkundige Impfstoffherstellung gegeben, noch wurden die erforderlichen Kontrollmechanismen eingehalten. Deycke wurde zu zwei Jahren Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, Altstaedt zu einem Jahr und drei Monaten wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Unter Berücksichtigung der Lübecker Ereignisse erarbeitete der Reichsgesundheitsrat am 14. März 1930 Richtlinien über Versuche am Menschen. Die Chancen, Lehren aus dem Impfunglück zu ziehen und die Richtlinien des Rates konstruktiv umzusetzen wurde jedoch zunächst durch den Nationalsozialismus zunichte gemacht.
 
 

7. Die Experimente des Dritten Reiches

Die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges markiert vermutlich den dunkelsten Punkt in der Geschichte medizinischer Forschung. Um den Prozeß, der schließlich in einem medizinisch kontrollierten Massaker und der Massentötung von Abertausenden von Juden endete, nachzuvollziehen, bedarf es eines Ausflugs in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Francis Galton nahm damals die Studien seines Cousins Charles Darwin zum Anlaß, sich mit der Vererbung der "natürlichen Fähigkeiten" auseinanderzusetzen. Beim Durchforsten bibliographischer Nachschlagewerke fiel ihm auf, daß viele bekannte Wissenschaftler, Offiziere, Politiker, Juristen und Künstler blutsverwandt waren. Daraus folgerte er, daß nicht nur körperliche Merkmale, sondern auch Talent und Charakter vererblich sind. So nahm Galton an, daß es durch wohlüberlegte Eheschließungen möglich sei, eine hochqualifizierte Menschenrasse hervorzubringen. Diese Theorie bezeichnete er als Eugenik. Ihr Ziel war es, das Erbgut eines Volkes oder gar der Menschheit zu verbessern.
Galtons Ideen wurden von vielen Menschen begeistert aufgegriffen und so wurde die Eugenik in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine populäre Weltanschauung. Das gefährliche an dieser Theorie war vor allem die sog. negative Eugenik, die den Nachwuchs von als "schlecht" eingestuften Personen möglichst gering zu halten oder zu verhindern versuchte.

Daß gerade die jüdische Bevölkerung zu dieser Zeit zum Nationalfeind Nr.1 avancierte, liegt vermutlich an den allgemeinen sozialen Rahmenbedingungen gegen Ende der 20er Jahre. Im März 1930 zerbrach die ohnehin instabile Koalitionsregierung in Deutschland. Die Wirtschaft war bereits im Herbst 1929 in die Krise geraten und die Zahl der Arbeitslosen hatte sich rapide vermehrt. Mit der Regierung dankte der Parlamentarismus ab und eine Notverordnung des Reichspräsidenten folgte der nächsten. Der Rechtsradikalismus hatte wieder eine Massenbasis. Gleichzeitig versprach der Nationalismus jedem die Wiederherstellung seiner wirtschaftlchen Unabhängigkeit. Es herrschte eine so große Unzufriedenheit, daß es ein leichtes war, die Schuld nicht dem Wirtschaftssystem zu geben, sondern sie statt dessen einer jüdischen Weltverschwörung, einer Macht also, die weder deutsch war noch irgend etwas mit der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun hatte, "in die Schuhe zu schieben".

So zeigt auch die Geschichte der jüdischen Anthropologie mit bedrückender Klarheit, wie die Forscher zunächst ehrlich bestrebt waren, Erkenntnisse über die physische Beschaffenheit der über den Erdball verstreuten Juden zu erlangen, wie sie in Deutschland immer mehr von ihren Vorurteilen, von denen die meisten nie ganz frei waren, gefangen wurden, bis sie schließlich die Wissenschaft dem Antisemitismus dienstbar machten. Immer weiter wurden die ethischen Grenzen wissenschaftlichen Urteilens und Handelns verschoben und mit den Ideen der Eugenik verknüpft, bis sie mit der Ermordung der Probanden aufgehoben wurden.

Allgemein betrachtet gehören die medizinischen Experimente der Nazis zu zwei Kategorien: jene, die das Regime für spezifische ideologische und militärische Zwecke forderte und unterstützte, sowie jene, die ad hoc aus dem vermeintlichen wissenschaftlichen Interesse eines SS-Arztes ausgeführt wurden.

Das Zentrum medizinischer Versuche im Dritten Reiches war Block 10 des Konzentrationslagers in Auschwitz. Block 10 war für den SS-Arzt Carl Clauberg errichtet worden, für seine Anstrengungen und Versuche, eine billige und effektive Methode der Massensterilisation zu finden.
Sein Verfahren bestand darin, eine ätzende Substanz, vermutlich Formalin und Novocain, in den Gebärmutterhals der Jüdinnen zu injizieren, um eine Obstruktion der Eileiter zu erreichen. Seine Versuchsobjekte waren Frauen zwischen 20 und 40 Jahren. Zunächst spritzte er ein Kontrastmittel, um festzustellen, ob die Eileiter nicht ohnehin schon beschädigt waren. Dann erfolgten drei Injektionen, die innerhalb von sechs Wochen zur Verklebung der Eileiter führen sollte. Es gibt Berichte, Clauberg habe die Frauen nach Ablauf eines Jahres mit ausgesuchten männlichen Häftlingen zusammenbringen wollen, um den Erfolg seiner Sterilisationsmethoden zu testen. Wegen des Kriegsverlaufs sei dieser Test dann allerdings nicht mehr zur Anwendung gekommen.
Die Folgen der Experimente waren Fieber und Bauchfellentzündungen. Die Anzahl der Frauen, die auf diese Weise von Clauberg und seinem Assistenten sterilisiert wurden wurde auf 700 geschätzt. Etliche kamen ums Leben.

Clauberg selbst geriet im Juni 1945 in russische Gefangenschaft. Drei Jahre später wurde er zu 25 Jahren Kerker verurteilt. 1955 kam er mit anderen Kriegsgefangenen nach Deutschland zurück. Die Ärztekammer zögerte lange, gegen Clauberg einzuschreiten, schloß ihn dann aber doch aus und erteilte ihm Berufsverbot. 1957 starb er überraschend in Untersuchungshaft.

Ein weiterer "Nazi-Doktor", der für rücksichtslose medizinische Unternehmungen zur Verfügung stand war Horst Schumann. Er war Direktor des Tötungszentrums Grafeneck und übernahm nach dessen Schließung Sonnenstein. In dieser Funktion kam er 1941 nach Auschwitz und nahm an der Selektion von 575 Häftlingen teil, die dann in Sonnenstein umgebracht wurden.

Der Reichsführer der SS Himmler befürwortete nicht nur die Sterilisation mittels Injektion sondern hatte auch die Vision einer Massensterilisation mittels Röntgenstrahlen. Dies war die Idee Viktor Bracks, der Himmler überzeugte, eine Roentgenkastration sei "nicht nur relativ billig, sondern auch bei vielen Tausenden in kürzester Zeit durchführbar."

Schumann wurde für diese Aufgabe ausgewählt und so führte er ab 1942 in Birkenau die Röntgensterilisation durch. Seine Versuchsobjekte waren junge Männer und Frauen im Alter zwischen 17 und 25 Jahren. Die Frauen wurden an Unterleib und Rücken zwischen zwei Platten gepreßt, die Männer mußten Penis und Hodensack ebenfalls auf eine Platte legen. Die Röntgenbehandlung dauerte jeweils einige Minuten.
Viele Frauen trugen erhebliche Verbrennungen davon, die sich häufig entzündeten und nur sehr langsam heilten. Schmerzen, Fieber und Erbrechen gehörten zu den häufigsten Symptomen.

Nicht lange nach der "Bestrahlung" wurden den Frauen die Eierstöcke entfernt. Üblicherweise wurden zwei Operationen durchgeführt, und zwar mit einem waagerechten Schnitt statt mit einem senkrechten Bauchschnitt, bei dem die Entzündungsgefahr weitaus geringer gewesen wäre. Die Eierstöcke wurden an Laboratorien geschickt, um festzustellen, ob die Strahlen das Gewebe zu zerstören vermochten. In zwei Stunden wurden bis zu zehn solcher Eierstockentfernungen durchgeführt.

Schumanns Experimente mit Männern verliefen ähnlich. zunächst wurde ihr Sperma gesammelt, indem man ihnen ein Stück Holz rektal einführte und brutal die Prostata bearbeitete. Anschließend wurde eine Operation ohne Betäubung durchgeführt, bei der ein oder beide Hoden entfernt wurde. Die Operationsfolgen waren Blutungen und Sepsen. Viele der Männer starben, der Rest wurde zur Arbeit geschickt. An einem Tag fanden 90 solcher Hodenoperationen statt.

Schumanns Brutalisierung in Auschwitz zeigt sich auch an einem kleineren Forschungsprojekt über eine Ringelflechte, die viele Männer im Gesicht hatten, die mit dem gleichen Pinsel rasiert worden waren. Obwohl dieser Zustand als behandelbar galt, ergriff Schumann die Gelegenheit, die Wirksamkeit seiner Bestrahlungsmethode zu erproben. Als Ergebnis platzte den Häftlingen die Haut auf und entzündete sich. Viele litten an gestörter Speichel- und Tränenfunktion sowie Lähmungen der Gesichts und Augenmuskeln. Dies wiederum führte dazu, daß man diejenigen, die durch die beigebrachte Behinderung nutzlos wurden ins Gas schickte. Neben den jüdische Opfern wurde die Bestrahlung auch an einer Gruppe junger Polen durchgeführt. Offenbar erhielten sie eine ganz besonders hohe Dosis, denn Berichten zufolge faulten ihre Geschlechtsorgane nach und nach weg. Die Männer sollen vor Schmerz davon gekrochen sein, so daß sie nach langer Qual in die Gaskammer geschickt wurden.

Man geht davon aus, daß insgesamt ungefähr 1000 männliche und weibliche Gefangene durch Bestrahlung sterilisiert wurden.

Schumann lebte nach dem Krieg unerkannt in Deutschland, bis sein Antrag auf einen Jagdschein ihn überführte. Er floh daraufhin außer Landes und endete schließlich im Sudan als Chef eines Krankenhauses, wo er angeblich sieben Jahre lang aufopferungsvolle Samariterarbeit leistete. In Ghana wurde er im November 1966 den deutschen Behörden übergeben. Er wurde mehrere Jahre inhaftiert und schließlich wegen seines schlechten Gesundheitszustandes entlassen. er starb 1983 in Frankfurt.

Ebenso sinnlos, doch nicht weniger grausam waren die anthropologischen Forschungen der Nazis. Der Straßburger Anatom August Hirt schlug Himmler im Februar 1942 den Aufbau einer umfangreichen Schädelsammlung vor, da ein solche der Wissenschaft bislang noch nicht zur Verfügung stehe. Auf seine Anweisung wurden in Auschwitz 109 Häftlinge  ausgewählt. Die Frauen wurden daraufhin nach Straßburg ins Konzentrationslager Natzfeld gebracht und vergast. Anschließend brachte man die Leichen in die Anatomie des Straßburger Krankenhauses, wo sofort mit dem Präparieren begonnen wurde. Ziel war das Erschaffen eines "greifbaren wissenschaftlichen Elements".
Aus der Schädelsammlung wurde - nicht zuletzt wegen Schwierigkeiten bei Abtrennen der Köpfe - eine Sammlung des gesamten Skeletts. Als sich bei Kriegsende die alliierten Truppen Straßburg näherten, wurde der fertiggestellte Teil der Sammlung vernichtet.

Dieses selbst für Nazi-Normen bizarre Unternehmen kam auf Betreiben des Forschungsvereins "Ahnenerbe" zustande, welchen Himmler 1935 gegründet hatte, um den wissenschaftlichen Beweis für die Überlegenheit der nordischen Rasse zu führen. Auf seine Anweisung hin förderte "Ahnenerbe" auch Dr. Sigmund Raschers berüchtigte Höhendruckversuch, bei denen er mutwillig Versuchsopfer tötete. Die Häftlinge wurden ohne Sauerstoff in große Höhen geflogen, damit Überlebensdauer und Unterkühlung untersucht werden konnten. Die Experimente waren dazu bestimmt, Lücken der Kriegsführung zu schließen.

Die Nationalsozialisten führten unzählige weitere Versuche an den hilflosen Gefangenen durch. wie z.B. Experimente mit Fleckfieber-Impfstoff und Hepatitis-Infektionen, oder die besonders grausamen Knochenversuche, bei denen Knochenbrüche durch Hammerschläge herbeigeführt und dann mit Klammern reponiert wurden.

Das Dritte Reich und seine Forschung zeichneten sich aus durch grenzenlosen Sadismus und unendlichen Ideenreichtum wenn es galt, immer neue Torturen für die Opfer zu ersinnen. Eines war den Versuchen meist gemein: sie brachten die ernsthafte medizinische Forschung des 20. Jahrhunderts um keinen Schritt weiter. Über der Bestürzung über das Schicksal der unzähligen Juden, darf nicht vergessen werden, daß auch andere Minderheiten unter den Nazis zu leiden hatten - ob Homosexuelle, Alte, Kranke, Schwachsinnige.
Dr. Ella Lingens-Reiner, eine berühmte Ärztin und Überlebende des Zweiten Weltkrieges fragte einmal den Nazi-Arzt Fritz Klein, wie er das Töten von Menschen mit seinem Eid als Arzt in Einklang bringe. Er antwortete: "Natürlich bin ich Arzt und möchte Leben erhalten. Und aus Respekt vor dem menschlichen Leben würde ich einen entzündeten Blinddarm aus einem kranken Körper entfernen. Der Jude ist ein entzündeter Blinddarm im Körper der Menschheit."

Die Kriegsverbrecher des Nationalsozialismus mußten sich im August 1947 vor dem I. Amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg verantworten. Bei diesem Nürnberger Ärzteprozeß kamen viele der ungeheuerlichen Taten erst ans Licht. Viele der Ärzte, die in die grausamen Machenschaften verstrickt gewesen waren, versuchten sich zu exculpieren. Sie verteidigten sich mit dem Argument, das deutsche Recht des Dritten Reiches kenne keine Normierung der ärztlichen Forschung. Außerdem unterschieden sich die Deutschen Praktiken nicht von denen der alliierten Mächte. Tatsächlich gab es Japan die legendäre Einheit 731, deren Mitarbeiter unter strengster Geheimhaltung tödliche Mikroben züchteten und mit Kriegsgefangenen in ähnlich grausamer Weise wie die Nazis verfuhren. Die Richter des Nürnberger Prozesses beeindruckte dieser Versuch der Verteidigung wenig.
Sieben Männer wurden zum Tode durch den Strang verurteilt, fünf zu lebenslanger Haft. Das übrige Dutzend erhielt Haftstrafen von zehn bis 20 Jahren Länge.

Die Richter von Nürnberg stellten außerdem allgemeine Richtlinien über die Zulässigkeit ärztlicher Experimente am Menschen auf, den sog. Nürnberger Code. Er gilt als erstes Dokument, daß ethische Standards festlegt und dabei die Aufklärung und Einwilligung des Patienten voraussetzt.

International wird heute als wesentliche Richtlinie die Revidierte Deklaration von Helsinki aus dem Jahre 1975 angesehen.  Sie hat frühere Deklaration  von 1962 und den Nürnberger Kodex ersetzt und gilt nun nach mehreren Anpassungen in der Form, in der sie 1989 in Hongkong beschlossen wurde. Auch sie stellt den Vorteil und die Sicherheit der Versuchsperson an erste Stelle, indem eine Abwägung von Nutzen und Gefahr gefordert wird. Außerdem verlangt sie Einwilligung nach Aufklärung und bei Versuchen durch den Arzt das Zurateziehen von Ethik-Komissionen.
 
 

8. Die Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Medizin der letzen 50 Jahre hat unglaubliche Erfolge erzielt. Neue Arzneien, Ultraschall und Computer ermöglichen heute Forschungen, die vor 100 Jahren noch undenkbar waren. Waren anfangs noch Masern und andere "Kinderkrankheiten" ein besonderes Problem, so stellen sie heute in den Industrieländern ein kontrollierbares Übel mit Möglichkeiten der Immunisierung dar.
Die medikamentöse Geburtenkontrolle ermöglicht seit Anfang der 60er Jahre die kontrollierte Familienplanung und revolutionierte das Leben vieler Frauen in der westlichen Welt.
Seitdem 1967 die erste Herztransplantation von Christian Barnard durchgeführt wurde, ist viel passiert. Während wir am 3. Dezember vergangenen Jahres das 30jährige Jubiläum diese Operation feierten, führten vermutlich an zahlreichen Orten auf der Welt Ärzte den mittlerweile fast routinemäßigen Eingriff durch.

Doch die Menschheit hat auch neue, kompliziertere Geißeln: 1981 traten das HIV-Virus und die Immunschwäche Aids erstmals in Form einer rätselhaften Epidemie in San Francisco auf. Heute schreitet die Krankheit noch immer mit Rasanz voran. Die Forschung macht auch auf diesem Gebiet Fortschritte. Medikamente wie AZT, ddI und ddC ermöglichen eine erhebliche Lebensverlängerung, aber ein Impfstoff ist auch bislang noch nicht in Sicht.
Die Behandlungsmethoden im Kampf gegen den Krebs haben sich ebenfalls gewaltig weiterentwickelt, doch noch immer sterben Tausende jährlich an der Zellentartung.

Die ethischen Deklarationen von Nürnberg und Helsinki, Oslo und Hongkong bieten uns weitgehende Sicherheit vor Katastrophen wie denen des Dritten Reiches. Dennoch werden auch in der heutigen Zeit Experimente an Tier und Mensch vorgenommen - mit manchmal unsicheren Resultaten. So verursachte das Schlafmittel Contergan zwischen 1856 und 1962 die Mißbildung von über 7500 Neugeborenen.

Einen beeindruckenden Fortschritt bislang unbekannten Ausmaßes stellt die Entdeckung der DNA 1953 dar. Schon 25 Jahre ist es her, daß Paul Berg an der Stanford Universitiy die Rekombinierbarkeit der DNS erkannte. 1978 kam Louise Brown, das erste Retortenbaby gefeiert zur Welt. Und heute wird die künstliche Befruchtung bereits kritisch beurteilt. Der Umgang des Menschen mit sich selbst, mit seinem eigenen Genom birgt ungeahnte Chancen, aber auch unüberschaubare Risiken. 1997 wurde das erste Schaf geklont, und seit wenigen Tagen hat Dolly in den USA eine Kuh zur "Schwester". Ärzte in den USA lassen verlauten, der erste menschliche Klon stehe kurz vor seiner "Geburt" (?).

Welche Entwicklungen, Epidemien und Experimente uns noch bevorstehen, ist überhaupt nicht abzusehen. Fest steht aber dies:
Der Stand der Wissenschaft heute beruht auf den Versuchen von gestern, mögen sie erlaubt oder unerlaubt, moralisch oder ethisch verwerflich gewesen sein. Heilversuche und wissenschaftliche Experimente gehören zum Alltag der wissenschaftlichen Forschung.